Kindheit in der Natur
Meine Kinder- und Jugendzeit war erfüllt vom Leben mit und in der Natur. Wann immer es ging war ich draußen, half den Bauern daheim im Dorf bei der Feld- und Stallarbeit, streifte stundenlang durch Wald und Wiesen, saß auf Jägerständen und beobachtete Rehe und Hasen am Waldrand. In diesen Kindertagen habe ich gelernt, mich zurechtzufinden auch da, wo es keine vorgegebenen Pfade und Wege gab. Im Wald kannte ich fast jeden Winkel fernab der normalen Forstwege. Ich wusste, wenn ich an diesem Baum ins Dickicht einbog, verbarg sich dahinter ein kleiner farnbewachsener Graben. Und wenn ich dem folgte, kam ich auf der anderen Seite auf einer wunderbaren Blumenwiese mitten im Wald raus, die kaum einer kannte. Dort verbrachte ich herrliche Stunden, tagträumend im Gras liegend, Gerüche, Geräusche der Pflanzen und Tiere um mich herum aufnehmend. Und manchmal trieb mich die Neugier ins unbekannte Neuland. Also wagte ich mich weiter in den Wald hinein, tiefer in die Gräben, weg von den Wegen. Ich vertraute meinem Orientierungssinn, der mich sicher wieder zurück nach Hause leiten würde.
Was ich aus der Kindheit lernte: Orientierung im Raum, Vertrauen in mich, in meine Mitwelt und in die Natur.
Abenteuer Jugendzeit
In der Jugendzeit organisierte ich zusammen mit Freunden einige Radtouren. Zusammen eroberten wir mit unseren Drahteseln die nahe und ferne Umgebung. Auch hier wieder: Orientierung. Diesmal mit topografischem Kartenmaterial und einer Übersichtskarte für Jugendherbergen. Man musste vorab die Wege studieren, die entsprechenden Jugendherbergen anrufen und verbindlich buchen. Vorrauschauend planen und organisieren kamen als weitere Fähigkeit dazu. Abwägen der Tourenstrecken und Höhenmeter auf dem Kartenmaterial, das Einschätzen der eigenen Kräfte. Denn mein altes Dreigangrad erforderte mehr Kraft als die tollen Mehrgangräder der Freunde. Da war schon auch öfter mal ein Stück das Rad den Berg hochschieben angesagt.
Was ich aus der Jugendzeit mitnahm: Fähigkeit des Einschätzens eigener und anderer Kräfte und Fähigkeiten. Organisieren und vorrauschauendes Planen und Strukturieren von Abläufen.
Lektionen aus der Schulzeit
Die Bergwanderung, wie man sich in den Bergen orientiert und dort mit geringsten Mitteln ein paar Tage auskommen kann fernab der Zivilisation in den Tälern, das brachte mir und einigen meiner Schulfreunde während der Gymnasialzeit unser Mathelehrer bei. Nach meiner Schulzeit: monatelanges Reisen durch die herrlichsten Naturgebiete der USA. Auch hier wurden gängige Pfade verlassen, verfallene Hütten oder verlassene Unterstände dienten zeitweise als Schutz in der Nacht. Spielerischund leicht wurde ich auf und für das Leben vorbereitet durch Üben der Orientierung, Organisieren und vorrausschauendem Planen von möglichen und tatsächlichen Ereignissen, Einschätzen lernen eigener und anderer Kräfte und Fähigkeiten.
Was ich in der jungen Erwachsenenzeit lernte: Vertrauen in und Lernen von Erwachsenen mit Vorbildcharakter. Orientierung auch hier an anderen Menschen und in immer weitere und fremde Gebiete in der Natur.
Berufswahl und Studiumseinstieg
Nach Schul- und Reisezeit musste eine Berufswahl getroffen werden. Dass ich Geologie als Studiengang wählte war mehr dem Zufall und der Vermittlung meiner Cousine gedankt, da mir mein Wunschfach Biologie mangels der dafür nötigen Abiturnote verschlossen blieb. Es sollte mein Glück sein, denn das Geologiestudium war genau das, was ich mir gewünscht hatte: Viel draußen in der Natur sein und von der Natur lernen.
„Warum wollen Sie Geologie studieren? Sie werden eh arbeitslos!“ So wurden wir Erstsemester am ersten Studientag empfangen. Was wir nicht wussten: Bis dahin waren es vor allem „Abenteurer“ und „Studienparker“, die sich im Institut für Geologie aufhielten. Erstere wollten in die weite Welt reisen. Beruflich ging es diesen Geologiestudenten da v.a. um Erdöl- und Gasprojekte im fernen Osten, doch dieser Arbeitsmarkt war dicht. Letztere schrieben sich in Geologie ein, weil sie auf die Aufnahme in ein anderes Studium wie z.B. Medizin warteten. Auf diese Weise traf sich in der Geologie eine Truppe junger Menschen mit ganz unterschiedlichsten Zielen. Im Laufe der ersten Semester lichteten sich dann die Reihen und in der Geologie blieben etwa zwei Dutzend Kommilitonen und Kommilitoninnen.
Während sich die Studentinnen und Studenten in Biologie, Chemie und Mathematik in unglaublich große und überfüllte Hörsäle drängen mussten, in welchen die Dozenten ihre Vorlesungen weit und irgendwie unerreichbar vom Zuhörenden abhielten, saßen wir Geologen in einem kleinen alten Hörsaal mit hölzernen Klappbänken, die Dozenten immer direkt und ganz persönlich mit den Studierenden interagierend vor uns. Wir wanderten durch Feld, Gelände und über Bergmatten Seite an Seite mit den Professoren und lernten von deren Erfahrungen, lernten alles das, was unsere schöne Erde ausmacht mit den Augen des Phänomenologen zu sehen.
Das Studium der Geologie
„Ich stelle jetzt Ansprüche an ihr räumliches Vorstellungsvermögen“ (Zitat Prof. Hans-Jürgen Kuzel, Mineraloge)
Was lernt man so im Studium der Geologie und Paläontologie? Steine und Fossilien anschauen, wäre die lapidare Antwort. Es ist aber viel mehr, nämlich: Steine und Fossilien im Kontext der Landschaft, ihrer Fundorte wahrnehmen, aufnehmen und einordnen können. Auch hier geht es wieder um Orientierung, diesmal nicht nur auf der horizontalen Ebene sondern auch um Orientierung in die Tiefe der Erdkruste hinein. Und was in großen Dimensionen gilt, zählt auch im mikroskopisch Kleinen: Dreidimensionale Orientierung in Gesteinsdünnschliffen am Mikroskop und Rasterelektronenmikroskop, Erkennen von Mineralien und daraus Schlüsse ziehen fürs große Ganze, aus dem die Gesteinsproben entnommen wurden.
„Geologie ist eine beschreibende Wissenschaft“ ( Zitat Prof. Theodor Groiss, Geologe und Paläontologe)
Der Alltag des Feldgeologen* ist neben viel Wandern v.a. Anschauen, genaues Hinsehen, Wahrnehmen – im Gelände wie im Labor. Ausgestattet mit Lupe und Kompass im Gelände draußen, mit Mikroskop und chemischen Utensilien im Labor drinnen, nähert er sich der Entstehungsgeschichte der Erde auf phänomenologische Weise, nämlich, indem er jeden Stein aufnimmt, umdreht, einmisst, genau ansieht, in die Umgebung einordnet und seine Funde und Befunde in eine topografische Karte einzeichnet. Der Geologe kennt mit der Zeit jedes Detail seines Arbeitsgeländes in und auswendig. Aus seinen Feld- und Laborstudien entwickelt er Entstehungsmodelle, Modelle zur Wasser- und Rohstoffgewinnung, Modelle für den Berg- und Tunnelbau uvm.
*um des Schreibflusses willen verwende ich die männliche Schreibform, es sind aber natürlich auch die Geologinnen und alle, die sich dazu berufen fühlen, gemeint 😊
Was ich aus dem Geologiestudium für mein Leben lernte: Jedes noch so kleinste Detail trägt zur Erschaffung des Gesamtbildes bei und ist ein Hinweis darauf, wie das große Ganze entstanden ist. Schau also auch auf die kleinsten Dinge im Leben und ordne sie im Gesamtbild ein!
Phänomenologie, was ist das?
Die Phänomenologie (von altgriechisch φαινόμενον phainómenon, deutsch ‚Sichtbares, Erscheinung‘ und λόγος lógos ‚Rede‘, ‚Lehre‘) ist eine philosophische Strömung, deren Vertreter den Ursprung der Erkenntnisgewinnung in unmittelbar gegebenen Erscheinungen, den Phänomenen, sehen (Wikipedia). Es geht also um Erkenntnisgewinnung aus den gegebenen Erscheinungen. Aber es geht um noch mehr. Rainer Maria Rilke spricht bei den Erscheinungen von „Dingen, die singen“. Es braucht also einen Zuhörer, einen Beobachter, einen Rezipienten, jemanden, der Dinge, Phänomene überhaupt erst mal wahrnehmen kann. Und: es braucht in einem selbst ein Organ, das wahrnehmen KANN. Damit sind nicht allein unsere „äußeren Gehilfen“ Auge, Ohr, Nase, Tastsinn usw. gemeint, sondern etwas, das all die aufgenommenen, wahrgenommenen Dinge, sinnvoll beim Wahrnehmen der „Dinge“ diese zusammenfügt, zusammenführt, strukturiert, ordnet, einfügt in die Landkarte seines und ihres Erfahrungsschatzes. Es braucht uns selbst, unser Denken, Fühlen und Handeln. All das in uns geht in Resonanz geht mit allem, was um uns und in uns ist. Und dazu braucht es wiederum den Orientierungssinn, der sich nach außen und nach innen wenden kann. Der so wendig ist, flexibel, auf Erfahrungen zurückgreifen kann, um Neuland aufzunehmen und zu erkunden.
Am wenigsten braucht es das vorgefertigtes Wissen! Ist das nicht phänomenal?
Phänomenologie ist in Resonanz gehen mit den Dingen in und um uns herum, daraus eigene Rückschlüsse ableiten und den Erfahrungsschatz um neue Erkenntnisse zu bereichern.
Anwendung und Berufung
Ich habe also als Kind und als Jugendliche immer wieder meinen Orientierungssinn, meine Wahrnehmungsorgane geschult, bin in Resonanz gegangen zu dem, was sich mir phänomenologisch darbot und habe diese Fähigkeiten im Studium mit wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden ergänzt und verfeinert. In der Geologie habe ich gelernt, horizontale Erscheinungsformen mit den vertikalen in Verbindung zu bringen und mich zunehmend in den dreidimensionalen Raum vorgewagt. Was ich aus meinen weiteren Ausbildungen gelernt und was mich letztendlich die inzwischen 27jährige Pflege und Begleitung meines behinderten Sohnes lehrte, das wird in den folgenden Beiträgen beschrieben werden.
Heute arbeite ich als Begleitung und Coach für Menschen in besonderen lebenslagen, für und mit Menschen, die auf der Suche nach ihrem eigenen Lebenssinn sind, die in Krisen stecken, die vor not-wendigen Entscheidungen stehen und diese Wendung nicht vollziehen können oder sich schwer tun, dies zu über-, zu ver-winden. Ich begleite Menschen, die Orientierung suchen, indem ich mit ihnen gemeinsam in deren Tiefe gehe, gemeinsam die Wege auf der horizontalen Alltags-Ebene beschreite und neue Wege erkunde. Mithilfe meines eigens für die individuellen bedürfnisse entwickelten WalkAbout-Konzeptes, welches zurOrientierung dient, erknden wir gemeinsam neue mögliche Wege und verknüpfen es mit unseren Erfahrungen und Fähigkeiten.
In die Tiefe zu gehen, dabei nicht die horizontale Ebene des Lebens aus den Augen zu verlieren, im Gegenteilt, die Tiefe der Seele mit dem Alltag zu verbinden, diese Fähigkeit wurde in meinem Geologiestudium gelehrt, geübt, angelegt und im Laufe meines Lebens zunehmend fest in meinem Wesen verankert.
2 Antworten
Christiane Zachau (Donnerstag, 16 Juni 2022 17:03)*
Beim Lesen sind in mir gerade unglaublich wunderbare Erinnerungen an unsere gemeinsame Studienzeit hochgekommen. Die beiden Nebenfächer Geologie und Paläontologie waren für mich der schönste und prägendste Teil meines Studiums. Ich hatte ganz vergessen, dass ich dir dieses Studium vermittelt habe
*Kommentar auf meiner alten Website
Liebe Chrissi, ich bin Dir für diese Vermittlung heute noch dankbar. Ich war in USA und hatte NULL Ahnung, was ich tun musste, um an die Uni zu kommen- wir lebten ja noch in einer Zeit ohne Internet, telefonieren war unglaublich teuer, die Postversendung dauerte mind. eine Woche. Von meinen Eltern kam keine Hilfe, die waren damit irgendwie überfordert. Also ich bin Dir heute im doppelten Sinne dankbar, denn Du warst es, die mich auf den Weg zur und in die Geologie gebracht hat. Rückblickend würde ich sagen: Das Studium der Geologie hat mich im wahrsten Sinne des Wortes geerdet.