Entdeckung im Wäldchen
Das junge Wäldchen war in seinem dritten Wachstumsjahr und mittlerweile stark verbuscht. Kleine Wildwechselpfade zogen sich durch das Unterholz; Brombeergestrüpp versperrte ihre Wege und machten ein Durchkommen oft unmöglich. Junge Pionierbäume, Akazien und kleine Birkenreißer standen gleich einer Herde Schafe dicht an dicht zusammen. Holunder, Trauben- und Vogelkirschen bevölkerten die einst freie Lichtung unter den großen, dünnen Birkenstämmen. Dem dichten Birkenwäldchen hatte die Trockenheit der vergangenen Jahre stark zugesetzt. Von Baumpilzen befallen, von Efeuranken fest umklammert und vom Wind niedergedrückt hatten viele Birken ihre aufrechte, schlanke und anmutige Wuchsform verloren. Vereinzelte Bäume waren abgebrochen und dienten dem Buntspecht im Frühjahr noch zur Aufzucht seiner Jungen. Und manch ein Baum, von den vergangenen Frühjahrsstürmen gänzlich niedergeworfen, lag nun bleich und tot da, Nahrung und Unterschlupf bietend für die kommenden Pflanzen und Tiere.
Eine auffällige Erscheinung
Auf einem meiner herbstlichen Streifzüge durchs Unterholz wurde mein Blick auf einen Baum mit einer besonders auffälligen Gestalt gelenkt. Der Baum war jung und schlank. Sein Stamm war in der Art und Weise niedergedrückt, dass er ab einem Meter Höhe bis zur Krone hin in die Horizontale ausgerichtet war. Kräftige Äste trieben senkrecht vom Stamm ab in einem 90° Winkel nach oben. Die wenigen verblieben herbstlich gelb gefärbten Blätter und die Maserung der Baumrinde wiesen ihn als Vogelkirsche aus. Der junge Baum musste von einer umstürzenden Birke getroffen und in die Horizontale umgebogen worden sein. Die Wucht des Aufschlags war offensichtlich so groß gewesen, dass es dem jungen Baum nicht mehr gelungen war, sich wieder aufzurichten – obwohl ihn nach dem Schlag keine weitere Last mehr niederdrückte.
Die Zeichen der Widerstandskraft
Dort, wo die Biegung am stärksten war, klaffte eine größere Wunde in seinem Stamm . Das Holz war über die Strecke der Biegung hinaus der Länge nach mehrfach aufgerissen und zerfasert. Und als hätte der Baum seine Wunden wie mit Pflaster notdürftig verbunden, wurden die Längsrisse des Holzes von quer liegenden kleinen Rindenflächen zusammengehalten.
Die Macht des Aufstrebens
Es war diese Kraft des Sich-Aufrichten-Wollens, die mich anrührte. Der Baum strebte ganz offensichtlich mit aller Macht und Kraft nach oben, in die Vertikale, hin zum Licht. Er wollte weiter leben, wieder in die Höhe kommen, aufrecht und im Licht stehen. Dafür mobilisierte er all seine Kräfte. Ich kann die Kraft nur ahnen und bestaunen, die den Baum weiter leben und wachsen ließ. Wie kann einer, der so stark gebeugt und erschüttert wurde, noch so voll Energie und Leben stecken und dem Licht entgegen streben? Welche Kräfte sind es, die ihm helfen, sich aus der Waagrechten in die Senkrechte zu erheben – auch und trotz des dauerhaft geschädigten Stammes?
Erkenntnisse aus der Niederlage
Kann es sein, dass solch ein Schlag es überhaupt erst möglich macht, die eigenen verborgenen Kräfte an den Tag zu bringen? Wie oft beginnt man durch Verlust zu spüren, dass es das Schönste und Wesentlichste im Leben ist, so aufrecht und frei wie ein Baum der Sonne entgegen zu wachsen? Und dass, vom Schlag des Schicksals so dauerhaft gebeugt, man neue Wege gehen und dafür ungeahnte Kräfte mobilisieren kann?
Ein Moment der Ruhe
Ich verweilte lange bei dem Baum, und legte mich, einem Impuls folgend, direkt unter den gebeugten Stamm auf den Boden nieder. Aus der Waagrechten heraus liegend kann man den Blick ganz leicht zum Himmel heben. Von oben blickten gleich Wächtern vier lichte Birken auf mich herab, so, als wollten sie mir sagen: Es sind immer Kräfte und Mächte da, die dich beschützen und über dich wachen – auch und gerade wenn du liegst und Mühe hast, dich aufzurichten. Was für ein wunderbares Erleben: Friede, Freude und eine unendliche Ruhe überkamen mich. Und der Gedanke: Man muss gar nicht immer kämpfen und verzweifelt aus sich heraus mit letzter Kraft versuchen, sich aufzurichten. Manchmal tut Ruhe und Liegenbleiben dringend Not, um eine neue Perspektive zu erhalten. Nur dann kann ich erst wahrnehmen, was ist, kann spüren und dem nachgehen, was gut und stimmig scheint.
Abschied und Frage
Es dämmerte bereits als ich mich aus meiner liegenden Position unter dem Baum erhob. Die klaffende große Wunde der Stammbiegung trat nun im Kontrast zur dunklen Rinde im letzten Licht des Abends überdeutlich vor. Ich erhob mich, entfernte mich ein paar Schritte und drehte mich zum Baum um mit der stummen Frage: Welche Botschaft hast Du, Baum, für mich?
Es antwortete: Beuge Dich!
Beuge Dich!
Lass geschehen, vertraue und gib Dich eine Zeit lang in das hinein, was geschehen möchte.
Beuge Dich!
Versuche nicht gleich zu begreifen und mit Deinem Verstand erfassen zu wollen was geschieht.
Beuge Dich!
Hab keine Angst und gib Dich dem Fluss des Lebens hin. Dann kann geschehen was richtig und wichtig für Dich ist.
Beuge Dich!
Vertraue den Kräften in und über Dir.
Beuge Dich!
Wechsle die Perspektive, werde ruhig und schaue wachsam um Dich.
Beuge Dich!
Halte Dich im Gleichgewicht mit Deinen Kräften.
Und eines Tages wird der Zeitpunkt kommen und Du wissen: Jetzt ist es Zeit, steh auf und geh!