„Märchen im Dialog“ – Fortbildungsreihe für Men­schen in begleitenden und therapeutischen Berufen

Wenn Vision auf Wirklichkeit trifft

Über Befindlichkeit, Mut und die Kraft des Wir

Einladung

Manchmal zeigen uns Märchen, was in unserer Welt gerade geschieht – leise, klar und tief.

Das alte Märchen von den „Sechsen, die durch die ganze Welt kamen“ erzählt von Verletzung, Zusammenhalt und der Kraft des Miteinanders.

Und wenn wir genau hinschauen, erkennen wir: Es ist auch unsere Geschichte. Es ist eine Geschichte, die davon erzählt, wie Visionen geboren werden – und warum diese so oft an unseren Befindlichkeiten scheitern. Und vielleicht ist es auch eine Geschichte, die davon erzählt, wie sie doch gelingen können.

Ein Märchen als Spiegel unserer Zeit

Es war einmal und ist noch immer …
… ein Soldat, der aus dem Dienst entlassen wird, mit einem kärglichen Lohn abgespeist, tief verletzt, betrogen um seine Würde.

Doch er bleibt nicht in Bitterkeit stecken. Er sagt:

Wart nur, König, wenn ich die rechten Gefährten gefunden habe, dann will ich mir deine Schätze holen.“

Und so zieht er los. Auf seinem Weg findet er fünf ungewöhnliche Begleiter – jeder mit einer besonderen Gabe:

  • Einer hat die Kraft, Bäume mitsamt den Wurzeln auszureißen, er schafft Raum und Durchblick.
  • Einer ist ein Jäger mit scharfem Auge, der auf weite Distanz erkennen kann, was kommt – ein Weitblickender.
  • Einer kann laufen, so schnell, dass kein Gedanke ihn einholt – er bringt Bewegung, wenn Stillstand droht.
  • Einer kann alles erstarren lassen, bringt Ruhe und Konzentration, wenn das Feuer zu heiß wird.
  • Und einer hat die Macht, so stark zu blasen, dass alles aufgewirbelt wird, wenn die Luft zu stehen droht.

Gemeinsam ziehen sie los – jeder mit seiner Fähigkeit, jeder mit seiner Aufmerksamkeit auf das Ganze gerichtet. Und sie wissen: Nur miteinander gelingt, was keiner allein schaffen kann. So besiegen sie den König, nicht mit Gewalt, sondern mit Klugheit, Achtsamkeit und Zusammenhalt.

Das Märchen erzählt von der Kunst, das Eigene mit dem Gemeinsamen zu verweben. Von der Wandlung des Ich zum Wir.

Von der Kraft, die entsteht, wenn keiner über den anderen herrscht, sondern jeder seine Gabe zur rechten Zeit am rechten Ort einbringt.

Von der Vision zum Wir

Eine Vision beginnt oft wie ein innerer Ruf; wie eine Sehnsucht nach etwas, das größer ist als wir selbst – nach einem menschlicheren Miteinander, nach Frieden, nach Gerechtigkeit.

Doch auf dem Weg dorthin stoßen wir an (unsere und anderer) Grenzen. Diese Grenzen tragen Namen wie „Verletzungen“, „Befindlichkeiten“, „Misstrauen“, „Eitelkeit“ uvm. – diese Grenzen bremsen aus und: sie machen das Wir so schwer.

Wir leben in einer Zeit, in der jeder von uns erst einmal lernen muss, das eigene Selbst zu erkennen und anzunehmen. Wir hatten die Aufgabe, unsere eigene Stimme, unseren Platz, unsere Würde zu finden. Und jetzt, wo unser Selbst-Bewusstsein steht, sind wir aufgerufen, den nächsten Schritt zu tun: Aus diesem Selbst heraus den Schritt hin zum bewussten Wir zu tun.

Damit ist nicht ein verschmelzendes, angepasstes Wir gemeint, nein, sondern ein lebendiges, achtsames, sich gegenseitig achtendes Wir-Miteinander.

Ein Beispiel aus dem Leben

Vor kurzem wurde in einem Krankenhaus bekannt, dass mehrere Stationen geschlossen werden sollen. Darunter war auch eine, die über Jahre etwas Einzigartiges aufgebaut hatte:

Ein Team von Ärzten, Therapeuten und Pflegekräften, das schwerstmehrfachbehinderte Erwachsene betreute – Eine Station für Menschen, die sonst nirgends sonst medizinisch richtig und ganzheitlich versorgt werden konnten.

Die Nachricht der Schließung war ein Schock.

Doch nach der ersten Starre regte sich etwas: Eltern und Angehörige gründeten eine Initiative, starteten eine Petition, mobilisierten Öffentlichkeit.

Ein Lied, das einer der Therapeuten vor Jahren für diese Station geschrieben hatte, wurde zum Symbol, zum Ruf: „Unsere Station muss bleiben!

Menschen fanden zusammen. Politiker wurden aufmerksam gemacht, Gespräche begannen.

Und dann kam eine Idee: Der Betriebsrat, der für alle gefährdeten Stationen und Beschäftigten des Krankenhauses eine große Demonstration plante, hatte die Idee, diesen Song zum gemeinsamen Zeichen zu nutzen – für die gesamte Krankenhausbelegschaft.

Und hier zeigt sich das Menschliche, das uns so vertraut ist:

Die Mitarbeiter:innen der besonderen Station sagten: „Wir lassen uns nicht mit unserem Song und der Aufmerksamkeit, die wir erreicht haben, vor euren Karren spannen.“

Eine verständliche Reaktion. Sie hatten lange erlebt, übersehen, belächelt, nicht ernst genommen zu werden. Und jetzt, wo ihre Kraft und ihr Symbol Wirkung entfaltete, sollten diese benutzt werden für etwas anderes? Niemals.

Nun, auf beiden Seiten war etwas Wahres – und doch ging der größere Sinn verloren.

Das Muster hinter dem Muster

Es ist wie im Märchen: Wenn einer glaubt, er müsse den anderen für seine Zwecke oder ihre Ideen einsetzen, reißt das Netz des Wir.

Das Märchen zeigt: Nur wenn jeder seine Fähigkeit in den Dienst des Ganzen stellt, ohne sich selbst oder seine Ideen über etwas anderes zu stellen, gelingt das, was kein Einzelner schaffen kann. Doch sobald einer meint, „ich nutze die Kraft des anderen, um meine Vision voranzubringen“, ohne mit der anderen Seite in Resonanz darüber zu treten, verliert sich die Verbindung.

Genau das geschieht aber sehr oft und immer wieder, ohne dass wir es merken – und meist ausgehend von den besten Absichten.

Der Weg zu den Schätzen – oder: Wer der wahre König ist

Doch das Märchen ist hier noch nicht zu Ende.

Nachdem der Soldat und seine Gefährten beieinander sind, wissen sie: Jetzt geht es darum, den wahren König herauszufordern – jene Macht, die von oben regiert, die nimmt und nie genug hat.

Im Märchen ist es der König, der betrügt, verspricht und nicht hält.

In unserer Welt trägt er andere Namen: Konzern, Aufsichtsrat, Investor, Ministerium.

Macht, die sich verkleidet in Zuständigkeit.

Und ihre Diener – Geschäftsführer, Landräte, Verwaltungsräte – versuchen, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen, gefangen in einem System, das ihnen selbst keine Freiheit lässt.

Der Wettlauf – und das Erwachen

Der König im Märchen lässt den Soldaten gegen seine Tochter antreten – ein Wettlauf um Macht, um Ehre, um Kontrolle.

Doch der Soldat hat Gefährten.

Der Schnellläufer, der Weitblickende, der Starke, der Kühler, der Sturmbringer –

sie handeln zusammen.

Keiner will glänzen, keiner führt, keiner nutzt. Jeder tut, was er kann – zur rechten Zeit, am rechten Ort.

So gewinnen sie.

Und am Ende, als die Lüge offenbar wird, muss der König seine Schätze herausgeben.

Was verborgen war, tritt ans Licht.

Die Wahrheit siegt nicht durch Kampf, sondern durch Bewusstsein und Verbundenheit.

Das Märchen in der Wirklichkeit

Vielleicht stehen wir jetzt an genau dieser Stelle im Märchen.

  • Noch kämpfen die Gefährten miteinander,
  • noch ist der Wettlauf im Gange,
  • noch schlafen einige ein,
  • andere sind verletzt,
  • und wieder andere fühlen sich ausgenutzt.

Aber die Geschichte ist noch nicht vorbei.

Denn sobald erkannt wird, dass der Gegner nicht der andere Mitarbeitende ist, nicht die Kollegin von der anderen Station, sondern das System, das spaltet und Profit über Leben stellt, dann kann sich etwas verwandeln.

Dann kann ein wahres Wir entstehen.

Dann kann der König entlarvt werden, und seine Schätze, die er für sich allein hütet, – die Menschlichkeit, die Solidarität, das Mitgefühl – kommen ans Licht.

Das Resümee – Die Vision, die bleibt

Vielleicht ist das die tiefere Botschaft dieses Märchens:

  • Dass wir alle gebraucht werden – mit unserer Kraft, unserem Weitblick, unserer Wachheit, unserer Ruhe, unserer Bewegung, unserer Stimme.
  • Dass wir uns nicht spalten lassen dürfen durch Verletzungen und Eitelkeiten.
  • Dass wir hinschauen müssen, über die sichtbare Ebene hinaus, bis dorthin, wo Entscheidungen wirklich entstehen.
  • Und dass es nicht darum geht, die anderen zu besiegen oder mehr Recht als die anderen zu haben, sondern darum, das System der Kälte und Gleichgültigkeit zu entlarven, das uns alle gefangen hält.

Wenn wir das schaffen, wenn wir uns die Hand reichen, dann kann ein neues Wir entstehen –

eins, das trägt. Dann wird die Vision Wirklichkeit.

Und vielleicht, ganz vielleicht, holen wir uns gemeinsam die Schätze zurück, die uns längst gehören.

Epilog – Die Schätze des Herzens

Es sind nicht Gold und Kronen, die wir brauchen. Es sind Offenheit, Vertrauen, Mut und das Erinnern daran, warum wir tun, was wir tun.

Wir alle sind Gefährten in dieser Zeit. Jede und jeder mit einer Gabe, die dem Ganzen dient.

Wenn wir lernen, über unsere Befindlichkeiten hinauszuwachsen, einander zu sehen, zu würdigen und zu ergänzen, dann werden auch wir – wie der Soldat und seine Gefährten – die Schätze finden, die verborgen lagen: das Mitgefühl, die Gemeinschaft, die Liebe zum Leben.

Dann wird das Märchen wahr.

Dann trifft Vision auf Wirklichkeit.

Und wir alle kommen – gemeinsam – durch die ganze Welt.

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Nahaufnahme von Märchenexpertin Elke Fischer-Wagemann, wie sie mit einem blau gemusterten Schal vor einer gelblichen Mauer steht und in die Kamera lächelt.

Hallo, ich bin Elke Fischer-Wagemann

Als Märchen­pädagogin & Natur­therapeutin mache ich die Verbind­ung zwischen Märchen und Natur­erfahrungen erlebbar.

In meinem Blog schreibe ich über meine Märchen­expertise, Persön­liches und Natur­begeg­nungen.

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