Mütterlichkeit neu gedacht: Was Muttertag und Märchen gemeinsam haben

Warum der Muttertag mehr ist als ein Feiertag – Eine tiefere Betrachtung von Mütterlichkeit durch die Linse der Märchenarbeit.

Mütterlichkeit – Ein Thema, das am Muttertag besonders im Fokus steht. Doch was ist der Ursprung dieses Tages? Der Muttertag wurde ursprünglich ins Leben gerufen, um die Leistungen und Opferbereitschaft von Müttern zu ehren. Im Jahr 1907 setzte sich die US-Amerikanerin Anna Jarvis für die Einführung eines nationalen Feiertags zu Ehren aller Mütter ein, um das Andenken an ihre eigene verstorbene Mutter zu wahren. 1914 erklärte Präsident Woodrow Wilson den zweiten Sonntag im Mai offiziell zum Muttertag.

Doch hinter diesem Tag verbirgt sich weitaus mehr als nur ein Anlass, Blumen zu verschenken. Mütterlichkeit ist ein zentrales Thema, das tief in der menschlichen Seele verwurzelt ist. Viele der Probleme, mit denen Menschen heute kämpfen, haben ihre Wurzeln in der Kindheit – in der Beziehung zu Mutter und Vater. Aus der Märchenarbeit heraus lässt sich erkennen, dass sich der Prozess des Menschwerdens eng mit der Auseinandersetzung mit der Mütterlichkeit verknüpft.

Der Mutterarchetyp nach C. G. Jung

Der Mutterarchetyp ist ein Konzept aus der analytischen Psychologie nach Carl Gustav Jung. Er repräsentiert das universelle, kollektive Unbewusste Bild der Mutter und umfasst alle mütterlichen Aspekte, sowohl positive als auch negative. Positiv kann der Mutterarchetyp als nährend, beschützend, fürsorglich und lebensspendend erscheinen. Negativ kann er als erstickend, kontrollierend oder destruktiv erlebt werden.

Jung identifizierte den Mutterarchetyp in Mythen, Religionen, Träumen und Kunstwerken weltweit, wobei er sich in Gestalten wie der Mutter Erde, der Jungfrau Maria, aber auch in bedrohlichen Figuren wie der Hexe oder der verschlingenden Mutter zeigt. Der Archetyp dient somit als psychologische Grundlage für das Verständnis der mütterlichen Rolle und ihrer Auswirkungen auf die Psyche des Individuums.

Psychologische Grundlagen für das Verständnis der mütterlichen Rolle im Märchen

Was bedeutet es denn dann, wenn wir uns mit Mütterlichkeit auseinandersetzen? Idealerweise denken wir da immer zuerst an das Hegende, das Nährende, das Liebende, dass allzeit Schützende und Umhüllende. Und oft genug kreiden wir aus unserer Kinderrolle heraus unseren Müttern doch genau diese Aspekte als in unserer Kindheit fehlend oder ungenügend erfahrend an.

Doch Mütterlichkeit hat eben auch eine andere, dunklere Seite (s.o.); diese wollen wir sowohl als Kind als auch in unserer eigenen Idealvorstellung von Mutter-Sein nicht wahrhaben, nicht anschauen, nicht sehen! In den Märchen allerdings wird genau diese dunkle Seite des Mutterseins immer wieder thematisiert: Im Märchen „Schneewittchen“ z.B. zeigt sich, dass Mütterlichkeit nicht nur aus dem Umhüllenden besteht, sondern auch Aspekte wie Härte, Neid und Missgunst mit sich bringt.

Die steife Mutter als dunkler Aspekt der Mütterlichkeit

Ein zentrales Bild in Märchen ist die Stiefmutter – die „steife Mutter“. Sie ist – zur Figur geworden – die bildhaft dargestellte harte Materie, mit der die Seele ringen muss, um sich zu entwickeln. „Schneewittchen“ ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür: Die reine (sich aus dem Jenseits auf die Erde inkarnierend) Seele, dargestellt durch Schneewittchen, wird von der bösen Königin – einem Archetyp der dunklen, zerstörerischen Seite der Mütterlichkeit – verfolgt. Schneewittchen steht für das Innere, Unberührte, Reine, das jedoch wie tot bleibt, wenn es nicht lernt, sich mit der harten Materie auseinanderzusetzen.

Der Muttertag – Tag der Menschwerdung

Materie und Mutter haben denselben Wortstamm: Mater. Der Geburtsvorgang selbst ist bereits einer der ersten, schmerzhaften Kontakte mit der Materie – sowohl für das Kind als auch für die Mutter. Dieses Ringen mit der Materie setzt sich im gesamten Leben fort. Es geht darum, die Seele mit dem Körper, das Geistige mit dem Irdischen zu verbinden und in Einklang zu bringen. Es ist ein Mensch-Werden in dem Sinne, dass wir über die Verbindung mit der Materie im Mutterleib heranwachsen und mit der physischen Geburt auf die Erde kommen. Geist und Physis verbinden sich, die Herausforderung an die Seele ist es, diese verbindende Tätigkeit zu leisten. Diese Tätigkeit zeigt sich in der beständigen Auseinandersetzung und Durchdringung von „Seele“ mit „Materie“; sie beginnt vom ersten Tag der Befruchtung an bis hin zum letzten Erdentag – in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper, im Laufe des Lebens dann weiter und immer mehr in der Auseinandersetzung mit der nahen und weiteren Mitwelt und mit der Umwelt, die uns sowohl in anderen Menschen, in Pflanzen, Tieren und dem Gestein der Erde entgegenkommen.

Wozu der Muttertag uns einladen kann

Der Muttertag lädt uns dazu ein, über diese Verbindungen nachzudenken. Es ist ein Tag, an dem wir das Menschwerden feiern – die Inkarnation der Seele in die Materie und die Herausforderung, diese Materie zu durchdringen, um ein bewusstes, mit der Erde verbundenes Leben zu führen.

Die Erde selbst nennen wir nicht umsonst „Mutter Erde“. Wir sind aufgerufen, sie zu hüten und zu pflegen, sie zu würdigen und ihr zu danken als derjenigen, die uns nährt und trägt. Ein Gedanke, der heute angesichts von Umweltzerstörung und Ausbeutung aktueller denn je ist.

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Hallo, ich bin Elke Fischer-Wagemann

Als Märchen­pädagogin & Natur­therapeutin mache ich die Verbind­ung zwischen Märchen und Natur­erfahrungen erlebbar.

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